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Naomi van Niekerk über das Animieren des Unbelebten und interdisziplinäres Filmemachen

Stefan Stratil im Gespräch mit MQ Artist-in-Residence Naomi van Niekerk.

Stefan: Naomi, du bist eine international etablierte Animationsfilmemacherin und sehr erfolgreich im Bereich der künstlerischen Kurzfilme. Wie kommt es, dass sich Kunst und Animation in deiner Arbeit vermischen?

Naomi: Ich habe einen interdisziplinären Hintergrund in Film und bildender Kunst und habe an der University of the Witwatersrand in Johannesburg, Südafrika Dramatische Kunst studiert. Wenn ich darüber nachdenke, war es während dieser vier Jahre Studium in Johannesburg, in denen ich den Grundstein für meine Herangehensweise an das Kunstschaffen gelegt habe. Der Universitätscampus befindet sich im Herzen der Stadt, inmitten eines Schmelztiegels der verschiedenen Sprachen und Kulturen Südafrikas. Es hat mir Spaß gemacht, durch die Straßen der Innenstadt von Johannesburg zu laufen, und da es sich um ein interdisziplinäres Programm handelte, habe ich mit verschiedenen Medien experimentiert: von Kursen in Film, Literatur und Theater bis hin zur Gestaltung großer Bühnenbilder für Bühnenproduktionen.

Stefan: Neben dem breitgefächerten Hintergrund lässt auch ein sehr persönlicher und manchmal politischer Ansatz deine Filme hervorstechen.

Naomi: Ich begann mein Studium weniger als zehn Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1994, und ich glaube, wir alle ritten auf einer Welle des Optimismus in einem Land und in einer Stadt, in der alles möglich schien. Als Studenten:innen rangen wir mit Fragen aus der Vergangenheit und um unserem Platz in der Gegenwart. Johannesburg, oder Jo’burg, war alles, und die Energie jener Jahre bleibt unvergesslich.

Stefan: Deine Filme haben auch einen starken Bezug zur Literatur.

Naomi: Die Texte, die ich bisher ausgewählt habe, sind Gedichte südafrikanischer Autor:innen und alle in der ersten Person geschrieben, basierend auf persönlichen Erfahrungen der Verfasser:innen. Ich arbeite gerne mit Texten, die ein bestimmtes Gefühl vermitteln, und obwohl ich nicht mehr dort lebe, fühle ich mich der Landschaft Südafrikas immer noch tief verbunden.

Stefan: Kannst du uns ein kurzes Beispiel für einen dieser Texte geben, vielleicht einen Satz, der besonders inspirierend für die animierte Visualisierung war?

Naomi: Mein letzter Film „Box Cutters“ beginnt mit dem Satz: „Ich kann mich nicht an die genauen Einzelheiten dessen erinnern, was an diesem Tag geschah, es war morgens, ich war allein“.  Diese erste Zeile inspirierte mich zu der Frage, wie man Erinnerungen auf der Leinwand darstellen kann, indem man mit „Scratch-on-Film“ arbeitet, einer Animationstechnik, bei der man mit Sandpapier und Radiernadeln auf 35-mm-Film Spuren hinterlässt. Das visuelle Ergebnis ist eine sehr unregelmäßige Animation, die mit dem Protagonisten korrespondiert, der versucht, sich an die Details eines Ereignisses zu erinnern.

Stefan: Du verwendest eine sehr spezifische und wiedererkennbare Animationstechnik. Kannst du deinen Arbeitsprozess beschreiben?

Naomi: Ich arbeite mit feinem Sand auf einem Leuchttisch, den ich benutze, um Formen und Figuren zu schaffen, die dann in einer Stop-Motion-Animationstechnik animiert werden. Der Aufbau ist recht einfach: Ich arbeite auf einem Leuchttisch, über dem eine Kamera angebracht ist. Ich liebe die Textur des feinen Sandes – im Gegenlicht sieht er aus wie Holzkohle oder Tinte, und ich mag es, Landschaften ineinander zu verwandeln, was bedeutet, dass ich meine Filme meist rückwärts plane und die ersten Aufnahmen zuletzt mache.  Mein Prozess ist sehr intuitiv und beruht oft auf Improvisation, so dass sich Szenen ganz unerwartet entwickeln können. Der Prozess ist sehr langsam, aber die Arbeit mit Sand auf Glas ist an sich ein sehr beruhigender, so dass man selten das Gefühl hat, dass die Zeit vergeht.

Stefan: Das künstlerische Schaffen mit einem so einfachen Material wie Sand impliziert den mythologischen Aspekt, anorganischer Materie Leben einzuhauchen – auch ein starker Bezug zur Animation, die ihre verbalen Wurzeln im lateinischen Wort „anima“, die Seele, hat.

Naomi: Ja, in der Tat. Ich habe mich schon immer dazu hingezogen gefühlt, das Unbelebte zu animieren, was wahrscheinlich erklärt, warum ich meine Karriere als Puppenspieler begann. Um dem Unbelebten Leben einzuhauchen, muss man viel hinhören und sich angleichen. Ich versuche, mir immer bewusst zu machen, was das Material vorgibt, und arbeite dann damit als Ausgangspunkt.

Stefan: Du wirst eine Installation in ASIFAKEIL realisieren, einem kleinen Ausstellungsraum in den frei zugänglichen MQ Schauräumen des MuseumsQuartier, der ausschließlich der Kunst in Verbindung mit Animation gewidmet ist.  Was können wir dort erwarten?

Naomi: Vor kurzem habe ich eine Reihe von animierten Fragmenten entdeckt, die Teil von Tests waren, die ich während der Entwicklung meines letzten Films durchgeführt habe. Ich möchte einige von ihnen zeigen und eine Installation entwickeln, die an den Studioraum oder den Denkraum der Animatorin erinnert. Ich habe einige kleine Abzüge mitgebracht und freue mich darauf, einige Konzepte im Ausstellungsraum selbst zu testen. Als ich über die Installation nachgedacht habe, habe ich mir das neue Buch „Animating Art “* sehr gerne angesehen. Das Buch gibt einen Überblick über mehr als 130 Ausstellungen, die im ASIFAKEIL stattgefunden haben, und es war sehr inspirierend zu sehen, wie andere Künstler:innen den Ausstellungsraum auf unterschiedliche Weise genutzt haben.

Stefan: Was sind deine Pläne während deines Aufenthalts in Wien, abgesehen von dieser Installation?

Naomi: Während meiner Residency im MQ plane ich die visuelle Entwicklung eines neuen animierten Kurzfilms, der im Januar 2025 in Form einer Ausstellung zu sehen sein wird. Ich werde eine Reihe von Kohlezeichnungen anfertigen und Druckplatten vorbereiten, um die wichtigsten narrativen Elemente des Films zu entwickeln. Es geht um das Geheimnis meines Großvaters, der 1966 auf mysteriöse Weise von der südafrikanischen Sicherheitspolizei getötet wurde. Ich bin zum ersten Mal in Wien und freue mich darauf, viel in der Stadt herumzulaufen. Eine neue Stadt zu entdecken ist, als würde man zum ersten Mal ein Buch lesen, und ich bin gespannt, welche neuen Ideen bei meinen täglichen Streifzügen entstehen werden.

Naomi van Niekerk ist in Kooperation mit ASIFA Austria im August 2024 als Artist-in-Residence im MuseumsQuartier zu Gast.
Am Fr 23.08., 19.30h wird die Künstlerin ausgewählte Arbeiten präsentieren und ein Filmscreening im MQ Raum D veranstalten.

Stefan Stratil ist Animationskünstler, Vorsitzender von ASIFA Austria und Mitglied des Vorstandes der ASIFA, der Association Internationale du Film d’Animation.

*Das Buch „Animating Art – 130 Exhibitions of Contemporary Animated Installations“ kann hier eingesehen und bestellt werden: www.asifa.at/animating-art

Interview: Stefan Stratil
Konzept & Übersetzung: Magdalena Winkelhofer, MQ Wien
Videos/Abbildungen: © Naomi van Niekerk